»Das Geisterfestungsfest«

Jugendroman von Pierre Dietz
für junge und jung gebliebene Leser beim Verlag Edition AV erschienen
Handlungsort ist die Festung Rüsselsheim

Um das Jahr 1435 gerät der Waisenjunge Johannes in die Hände des Wirts der Festung. Eines Nachts schickt er den Jungen einen Schinken aus der Brunnenstube im Festungswall zu holen. Dort gerät der Junge dort in die Welt der Geister, die ihn bereits erwarten. In dieser anderen Welt soll der Junge dem Geisterverein helfen, ihren »Zugang zur Unterwelt« bekannt zu machen. Der Geisterverein hat sich zum Ziel gesetzt, den Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits die Münzen abzukassieren, die sie als Grabbeigabe mit sich tragen. Johannes freundet sich mit dem »Mädchen aus dem Osten« an. Zusammen entwickeln sie Ideen, wie man ein Geisterfestungsfest gestalten kann. Kann der Junge gegen die Profitgier und die Intrigen »des Legionärs« bestehen, der den Geisterverein mit harter Hand führt?

Zahlreiche Zeichnungen zieren das Buch, das im Anhang eine Erläuterung des Festungswesens enthält. ISBN: 978-3-86841-077-8, Preis 16 Euro

Leseprobe

Es war etwa um das Jahr 1435. Die Nacht war ungewöhnlich schnell über der Festung Ries1 hereingebrochen, denn dunkle Wolken und kalte Polarluft kündigten erstmalig in diesem Jahr den Herbst an. Sturmböen peitschten die düsteren Gesellen vor sich her und spielten mit der Laterne, die vor dem Wirtshaus im inneren Festungshof hing und nur schemenhaft mit dem Licht einer Kerze den Schriftzug »Zum Riesling« erleuchtete. In der ebenfalls nur schummerig beleuchteten Taverne verzechten ein paar Soldaten ihren Sold. Wem der Wirt gut gesonnen war – und das war eher selten –, der konnte auch anschreiben lassen.
Selten, dass jemand sich aus dem nahe gelegenen Seilfurt hierher verirrte, außer vielleicht ein paar Dirnen. Diese kamen nur freitags, da die Landsknechte dann ihren Sold ausbezahlt bekamen. Doch es war ein gewöhnlicher Tag unter der Woche. Deshalb wurde an diesem Abend um Geld gewürfelt, welches die Waffenträger noch gar nicht erhalten hatten.
Da der Wirt ein notorischer Geizkragen war, brannte im Kamin nur ein spärliches Feuer. Der kalte Wind fegte durch die Ritzen und bereitete den Gästen der Spelunke ein unwohles Gefühl. Dennoch verspürte keiner von ihnen den Drang, in sein Quartier zurückzukehren. Die einen, weil keine Frau dort auf sie wartete, die anderen, weil ihre Frauen sie dort erwarteten, um noch zu später Nachtstunde einen Streit über das versoffene Geld anzufangen. Konnten sie doch froh sein, in diesen harten Zeiten im Schutz einer Wehranlage wohnen zu dürfen und nicht auf den Feldern schuften zu müssen.
Dahingegen traf man die Soldaten, die mit ihren Familien in den Bastionen wohnten, hier äußerst selten an, obwohl deren Salär weit höher war. Sie lebten in ständiger Alarmbereitschaft und mussten Tag und Nacht den Fluss zur einen Seite und die Hauptstraße zur anderen im Auge behalten. Wenn sie etwas Verdächtiges entdeckten, mussten die Bereitschaftssoldaten ausrücken. Erspähten sie jedoch ein Schiff oder eine Kutsche mit Ladung, schickten sie die Zöllner hin, um den Wegzoll abzukassieren. Diejenigen eben, die aus Langeweile ständig im Wirtshaus herumlungerten bis der Genuss des Alkohols dazu führte, dass sie an Ort und Stelle einschliefen. Dem Wirt war es egal, solange er nur sein Geld bekam.
In der Wirtschaft lebte ein Junge namens Johannes. Niemand konnte ihm sagen, wie alt er wirklich war, denn er war noch sehr klein gewesen, als seine Mutter starb. Das Elend ihres Daseins hatte übermäßig an ihren Kräften gezehrt. Das Leben im Dreck, der Feuchtigkeit, der Schimmelpilze und des Ungeziefers hatte sie geschwächt, der übermäßige Konsum von Alkohol hatte ihr den Rest gegeben. Auf dem Totenbett hatte sie dem Kind, das die Tragweite ihrer Krankheit noch nicht erfassen konnte, gesagt, dass es ihr eigentlich gut ginge und es sich keine Sorgen machen solle. Der Junge hatte daran geglaubt und glaubte es noch immer, auch als seine Mutter bereits bleich, steif, wortlos und übelriechend in ihrem Bett lag. Nachdem er sie mehrfach und ohne Erfolg angefleht hatte, ihm etwas zu essen zu machen, öffnete er die Tür und verließ zum ersten Mal in seinem Leben die Wohnung alleine. Da sein Vater die Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte, fürchtete diese so sehr, auch ihn zu verlieren, sodass sie ihm nie erlaubte, das kleine Zimmer, das sie in einem Armenhaus bewohnten, zu verlassen. Doch jetzt, schwindelig vor Hunger, machte er sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Sein Sprachschatz war noch sehr eingeschränkt, und die anderen Bewohner waren zu sehr mit sich beschäftigt. Zu jener Zeit schenkten Erwachsene ohnehin Kindern selten ihre Aufmerksamkeit, und so gelangte er ungehindert auf die Straße. Er ging zum Fluss, wo er ein paar Beeren aß und sich dabei völlig mit deren Saft beschmutzte. Er hatte keine Ahnung, was er da zu sich nahm. Es schmeckte ihm, und er hatte Glück, dass es genießbar war.
Langsam näherten sich drei Kähne, die mit Stoffballen und anderen wertvollen Gütern beladen waren und von sogenannten Leinenreitern den Fluss hinauf gezogen wurden. Ein Trupp Söldner beschützte den Tross. Der Junge beschaute dieses Schauspiel und vergaß dabei für eine Weile seinen Hunger und seine Mutter. Als sie den Jungen bemerkten, kamen sie spontan auf die Idee, ihn mitnehmen zu wollen, und winkten ihn zu sich. Ein Mann auf seinem Pferd zwinkerte ihm sogar mit den Augen zu und bot ihm einen Platz auf seinem Gaul an. Johannes spürte jedoch deren angespannte Stimmung. Sie war wie die von Jägern, wenn sie auf der Pirsch nach einem Stück Wild sind. Instinktiv rannte er davon. Die Soldaten hätten ihn locker zu Ross in leichtem Trab einholen können. Doch hier so kurz vor der Festung mussten sie damit rechnen, dass bereits ein Zöllnertrupp losgeschickt worden war. Dabei erwischt zu werden, Jagd auf ein kleines Kind zu machen, konnte dazu führen, dassman am Galgen endete. Nicht wegen der Kinder, sondern wegen der Verletzung des Jagdrechts, das allein dem Landgraf vorbehalten war. Nur von ihm ernannte Jäger durften dieser Tätigkeit nachgehen. Zuwiderhandlungen wurden mit dem Tod bestraft, da man in jenen Zeiten nie wissen konnte, aus welchem nichtigen Grund man noch kurz die Bekanntschaft eines Henkers machte.
Auf diese Weise gelangte Johannes die Flucht bis zum Festungshügel, an dessen südlichen Flanken Wein wuchs. Eine Tradition, die sich hier seit den Römern gehalten hatte, um das »Castris« mit Wein zu versorgen. Zwischen den Reben kontrollierte der Wirt der zuvor genannten Taverne, ein kräftiger Mann mit Bauch und Bart, wortkarg und mürrisch, den zu erwartenden Ertrag. Dieser sah dank der neuen Rebsorte erfolgversprechend aus und so hatte er ausnahmsweise gute Laune. Die zu erwartende Ernte reichte voraussichtlich für ein ganzes Jahr – besonders, wenn er den Wein noch reichlich mit Wasser verlängerte. Wenn seine Gäste schon zu viel getrunken hatten, wusste er, dass sie den Unterschied nicht mehr merkten. Dann handhabte er es mit dem Essen ebenso, denn aus Habsucht hatte er die Vorräte stets zu knapp bemessen. So servierte er den Betrunkenen gerne auch mal die Mäuse und Ratten, welche seine Katzen am frühen Abend fingen und ihm auf die Schwelle an der Hintertür legten. Zugelaufenen Hunden und Katzen blühte im Übrigen ein ähnliches Schicksal, besonders wenn sie dem Wirt vor die Taverne fäkalierten.
Noch mehr freute es ihn, ein elternloses Kind zu sehen, das geradewegs auf ihn zugelaufen kam – wenn man die noch leicht unkontrollierten Bewegungen Laufen nennen konnte. Als der Junge sich dann auf allen Vieren weiter bewegte, war es für den Wirt ein leichtes Spiel, ihn unter dem Versprechen von Wasser und Brot unter den Arm zu nehmen und in die Festung zu tragen. Der Wachposten nahm keine weitere Notiz davon, da der Wirt ihm ja bekannt war und dieser schon des Öfteren irgendwelche Kinder im Schlepptau hatte. Es kam immer wieder vor, dass diese verschwanden. Das fiel aber keinem sonderlich auf, denn die Soldaten der Bereitschaft wechselten öfter und die Menschen aus den Bastionen kamen nur selten in den inneren Hof der Festung. Zudem kümmerte es niemanden. Denn was ging einen schon der Nachwuchs der anderen an?
So kam es, dass der Junge ein Teil der Festung wurde. Als billige Arbeitskraft, der man eine kleine Kammer unter dem Dach zugewiesen hatte, in der es stickig und modrig war. Zu essen gab es nur Reste aus der Küche oder von dem, was die Gäste zurückgehen ließen, weil es zu salzig oder längst verdorben war. Zu seinem Glück bekam er aber oft von den Soldaten, die ihn für das Maskottchen der Festung hielten und ihn gerne mit dem Spitznamen „Riesling“ anredeten, etwas Essbares zugesteckt, was nicht aus dem Bestand der Taverne kam. Für den Wirt Anlass, auch den Wein und sogar die Taverne „Riesling“ zu nennen. Beim Kauf neuer Reben ließ er den überraschten Händler den neuen Namen sogar auf den Rechnungsbeleg schreiben.
Allerdings erkannte der Junge seine miserable Lage nicht. Immerhin schlug der Wirt ihn nicht, selbst wenn ihm mal versehentlich etwas aus den Händen glitt oder er seine Aufgaben nicht in der Zeit erfüllte, die der Wirt ihm vorgegeben hatte. Andererseits redeten die beiden sonst kein Wort. Nur die eingebildete Wirtsfrau antwortete von oben herab auf seine Fragen. Doch im Laufe der Zeit brachte sie dem Jungen aus Eigennutz Lesen und Schreiben bei, damit er ihr bei der Lagerverwaltung helfen konnte. Das hieß, wenn sie überhaupt mal da war, denn meist trieb sie sich irgendwo in der Gegend mit dem Vorwand herum, die Anwohner in der Umgebung auf die Kneipe aufmerksam zu machen. Die Soldaten waren sich jedoch alle einig, dass sie ihrem Gatten nur Hörner aufsetzen würde. Was sie nicht wussten, war die Tatsache, dass der Wirt seine Frau gegen einen gewissen Betrag an einflussreiche Persönlichkeiten zu deren körperlichen Freuden verlieh. Hauptsache, er verdiente Geld, egal mit welchen Mitteln.
Eines Tages fand Johannes zufälligerweise ein Stück Papier1, das ein Soldat verloren hatte. Ohne zu wissen, welche Konsequenzen der Verlust dieses Dokuments für den Soldaten hatte, nahm er es an sich. Auf der Vorderseite war das Papier beschrieben und eine sehr geometrische Zeichnung zierte einen großen Teil der Fläche. Zu seiner Freude war die Rückseite jedoch noch unbeschrieben und weiß. Er steckte es ein. Eines Abends war die Kneipe leer. Die Soldaten waren zu einem Manöver aufgebrochen. Er langweilte sich, da ihn keiner scheuchte, ärgerte oder aufzog, wie es normalerweise der Fall war. Der Wirt wies ihn also an, ihn nur zu rufen, falls doch noch Gäste kämen. Dann ging er in seine Wohnung, um sich hinzulegen.
Da fiel ihm das Papier ein, das er nun hervorkramte. Dann holte er sich das Fläschchen mit der Eisengallustinte und den Federkiel, den der Wirt für seine Abrechnungen benutzte. Nun versuchte er die Gegenstände, die ihn umgaben auf das Papier zu bannen. Anfänglich kleckerte er, da er zu viel Tinte auf der Feder hatte, später waren die Linien ohne Farbe, doch langsam bekam er es in den Griff, sodass die Tinte gleichmäßig fließen konnte. Es freute ihn zu sehen, wie die Dinge ihre Form bekamen, bis das Papier damit übersät war.
Er war derart in sein Schaffen vertieft, dass er die Person nicht bemerkt hatte, die sich ihm langsam und lautlos von hinten genähert hatte. Fast atemlos hatte sie sich über ihn gebeugt und zugesehen, was er zeichnete. Es war die Wirtin, die schließlich Worte der Bewunderung fand, sodass der Junge sich derart erschrak, dass er für kurze Zeit die Besinnung verlor.
Als er wieder zu sich kam, pochte sein Herz und die Schamesröte erhitzte die Haut seiner Wangen.
„Du kannst sehr schön malen. Wenn du willst, besorge ich dir gerne mehr von dem Papier.“
Froh darüber, dass die Wirtin ihm nicht übel genommen hatte, dass er sich die Zeichensachen ohne zu fragen genommen hatte, und erfreut über dieses Angebot, stimmte er ihr mit einem strahlenden Lächeln zu. War es doch zudem eine gute Sache, sich die Zeit zu vertreiben.
So wuchs Johannes zu einem jungen Burschen heran, der sich zwar nicht vor der harten Arbeit im Weinberg oder in der Wirtschaft drückte, aber zu jeder Zeit zeichnete, wenn die Wirtsleute mit sich selbst beschäftigt waren. Nach und nach gab es kaum einen Winkel in der Festung, den er nicht auf Papier gebannt hatte. Der Wirtin war dies recht. Sie nahm ihm seine Werke ab und verkaufte sie in der Stadt. Im Gegenzug brachte sie ihm frisches Papier, Tusche und Farbpigmente mit. Dann hatte er die Idee, mit einem scharfen Messer die Spitzen der Gänsefedern, die er im Hof nur aufzulesen brauchte, mit unterschiedlichen Breiten zu versehen. So verwendete er für Umrandungen unterschiedliche Breiten und für Schraffuren dünnere Spitzen. Dadurch erreichte er ungeahnte und für die Zeit ungewöhnliche Tiefen seiner Zeichnungen.
Später ging er dazu über, Pflanzen wie den Wein, und Bäume zu skizzieren. Hier erregte er jedoch den Zorn des Wirts, der den Bildern nichts abgewinnen konnte und fand, dass der Junge nicht arbeitete.
Oft ging er gar nicht zu Bett, sondern zeichnete bei Kerzenschein. Das wenige Licht erleichterte es ihm, sich um so mehr auf seine Zeichnungen zu konzentrieren. Er versuchte, aus der Erinnerung die Wirtin zu zeichnen, die er beim Baden beobachtet hatte. Aus seiner Sicht eine alte Frau, doch ihre Haut war noch sehr straff. Sein Glied hatte sich bei ihrem Anblick geregt, doch er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
Plötzlich hatte er Bedenken, wie die Wirtin wohl auf diese Zeichnung reagieren würde. Fieberhaft überlegte er, wo er das Bild verstecken könnte. Schließlich wurde er fündig: Eine lockere Bodendiele erschien ihm als das sicherste und auch trockenste Versteck, um das Werk zu schützen.
Er wusste aber nicht, dass die Wirtin genauestens Buch über die Anzahl der gekauften Blätter und der verkauften Zeichnungen führte. So stand sie eines Tages unverhofft in seinem Zimmer:
„Mir scheint, es fehlt ein Blatt. Wo kann es geblieben sein?“
Der Junge erschrak und stammelte etwas davon, dass Papier leicht zerstörbar sei. Sicher ein Raub der Flammen, da er unzufrieden mit dem Werk gewesen sei. Das machte dieWirtin wütend und sie verlangte unverzüglich die Herausgabe des Papiers. Mit oder ohne Zeichnung. Unberührt oder die Asche. Der Junge versuchte Zeit zu gewinnen, indem er ihr die anderen Zeichnungen zeigen wollte. Sie aber ließ sich davon nicht irritieren und überlegte bereits, mit welchen Maßnahmen sie drohen würde, als der Junge mit hochrotem Kopf klein beigab. Er hob die Bodendiele an und übergab ihr das Blatt mit leicht zitternden Händen. Sofort griff sie danach und riss es ihm aus den Händen. Er fürchtet derweil zumindest mit einer Ohrfeige bestraft zu werden und hielt seine Arme schützend vor sein Gesicht. Doch stattdessen verfiel sie in ein schallendes Gelächter. Ohne für ihr Verhalten eine Erklärung abzugeben, ließ sie den verblüfften Jungen in seiner Kammer stehen.
Tage später gab sie ihm abermals wortlos neues Papier und ließ danach die Türen zu ihrem Zimmer absichtlich offen stehen. Sie badete fortan auffällig lange und eilte sich nie, sich wieder anzuziehen.